Ein ganzes Leben | Gastbeitrag

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Ein ganzes Leben | Gastbeitrag

Ist es nicht eine seltsame Phase, in unserem Leben? Jetzt, da wir so deutlich spüren, wie vergänglich Leben ist und jetzt, da wir das erste mal in ganzer Klarheit sehen, wie begrenzt, wie endlich alles Menschliche.

Pfote (1 von 1)

Gerade jetzt, wo wir so kurz davor stehen, all unsere Ziele zu erreichen, all die Dinge, die wir schon immer wollten, all die Eckpunkte, die unser Leben stützen sollten – kommt es jetzt nicht reichlich spät? So kurz vorm Ziel und doch – kommt es nicht viel zu früh? Es trifft uns, als kleines Loch in unserer Brust, wandert hoch, als feiner Nebel ins Gehirn und viele kleine Hagelkörner sendet es, durch unsere Adern. Wir können sehen, wie unsere Haut sich wölbt und liegen krank im Bett, voll Schmerz und Leid. Wollen nur wieder auskurieren, wollen zurück, ins Gestern, in unsere Zukunftsphantasien, die wir vor Jahren, vor Welten, vor Leben geboren haben, die uns alles waren – ein ganzes Leben – und jetzt wie gebrauchte Kondome, hohl und so unendlich klein vor unseren Füßen zu Boden liegen, dem Boden, der nun bei jedem Schritt uns zittern lehrt. Ein Funken beginnt zu glitzern, als wir uns so betrachten, mit dieser Hülle, so klar vor den Augen. Zum Glück, denken wir und oh wie knapp sind wir dieser Täuschung entkommen, doch, zur Freude mischt sich dunkle Ahnung, sind wir das?

Flaschenpost

Ängstlich blicken wir uns um und können nicht erkennen, wo wir stehen, liegen, leben. Wir klammern uns fest aneinander, lauter unbekannte Türen versperren uns die Sicht auf klare Wege, klare Ziele, die uns einst wie Sterne in die Heimat führten, doch jetzt – keine Schilder, keine Tipps. Nur wir, ganz allein, in Mitten unseres Lebens.

Ich fühle mich wie 16, nur ein bisschen dünkler, denke ich, ein bisschen ernster, ein kleines bisschen größer. Wieder, wie gestern erst, im Feld reinsten Potentials, ohnmächtig zu gehen und jedem Schritt, der getan, wehmütig bedacht. Wir wissen, wir brauchen einen neuen Zugang, wir wissen, es ist an der Zeit, uns loszulassen, einfach zu tun, ganz gleich, was, ganz gleich wie und wo – nur jetzt muss es sein, und ganz bewusst, an den Grenzen unserer Welt, denn ist sie nicht unendlich klein? In all ihrer Einfachheit, all der Ruhe und Gemütlichkeit, einem dicken Schleier Liebe, mahnt sie uns nicht, wie Gitterstäbe im Gefängnis, den Dämonen unserer Vergangenheit zu dienen, mahnt sie uns nicht, dieses eine Leben zu führen, dass seit unserer Kindheit wie ein Gemälde in den Hallen unserer Seele hängt? Ja, wenn wir es so sehen, spielt es denn wirklich eine Rolle, wohin? Hauptsache hinaus, Hauptsache fort. Wir wissen, wir müssen gehen und voller Angst stehen wir, ineinander verwoben, vor einem großen Tor. Wir fühlen uns schlecht, und gut tief drinnen, wir spüren, es ist richtig, so echt, so lebendig, das erste mal seit langem, im eigenen Körper zu leben.

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Wir lösen unsere Umarmung sanft, ganz langsam, ganz leise, sehen uns in die Augen und stellen uns wieder, Schulter an Schulter, nebeneinander. Wir atmen tief ein und lange aus. Ein Zentrum, eine Mitte löst sich, scheint unter uns, zwischen uns, über uns zu verdampfen – eine Leere tut sich auf und wir füllen sie mit Angst und unendlicher Erleichterung. Eine Weile stehen wir noch wie angewurzelt da, dann gehen wir, bestimmt und aufrecht, stellen uns, jeder für sich, einem eisernen Tor. Und als wir unsere Hände zitternd in die Luft erheben, bange auf den Türgriff blicken, da fällt es mir wie Schuppen von den Augen – ich kann dich sehen. Da, wie du stehst, vor einer Tür, die so klein aussieht, in der Ferne. Wir lachen uns an – sagen hey, winken, sieh dich doch an! Wie groß du geworden bist und hey, sie doch, wie klein deine Tür. Lass uns gehen, sagen wir, nicken und lächeln, halten gemeinsam lange Inne. Ist es nicht eine seltsame Phase, in unserem Leben?, frage ich, meine Worte zerschneiden die starre Luft. Dein Blick liegt bedeutungsschwer im Inneren und deine Seele öffnet sich schließlich, zu einem kleinen Lächeln.

Ist es nicht das erste Mal, seit langer, langer Zeit, endlich wieder ein ganzes Leben?

Vielen Dank an die Autorin Hanna O. !

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