Meine Essstörung:
Ein Kampf um jeden Bissen
Meine Essstörung:
Ein Kampf um jeden Bissen
Ich schaute in den Badezimmerspiegel und erschrak. Ein Schädel starrte mich an. Dünne, fahle Haut. Ihm fehlte der rosarote Glanz, ein Zeichen von Gesundheit und Lebensfreude. Die Lippen hatten an Farbe verloren und die Wangenknochen waren so scharf, dass man sich bestimmt an ihnen schneiden konnte. Die glasigen Augen lagen tief im Kopf und zeigten eine langandauernde Müdigkeit. Müdigkeit vom Leben? Der Körper war klein und zierlich. Zu zierlich. Die Kleidung hing schlapp herunter, wie an einem viel zu alten Kleiderbügel. Ich erkannte mich selbst nicht mehr wieder. Wie konnte es nur so weit kommen? – fragte ich mich.
Ich habe wirklich lange hin und her überlegt, ob ich euch von dieser Geschichte erzählen soll.
Nicht viele meiner Wiener Freunde wissen davon, da man mir das nicht mehr angesehen hat, als ich nach Wien gezogen bin, und auch generell spreche ich nicht sehr oft darüber. Es ist ein sehr privates Thema und mir auch unangenehm. Vielleicht spreche ich nicht viel darüber, weil ich es selbst noch nicht so gut verarbeitet habe. Diesen Artikel zu schreiben und auch zu veröffentlichen kostet mich gerade eine menge Kraft. Bis zum letzten Moment, zögere ich es hinaus auf „Veröffentlichen“ zu klicken. Ich sitze gerade auf dem Sofa und weine mir die Augen aus. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass mich dieses Thema nach so langer Zeit noch so sehr mitnimmt. Ich finde es aber wichtig, darüber zu reden, weil es niemand tut und auch niemand getan hat als ich es gebraucht habe. Ich finde es wichtig zu wissen, dass es anderen Menschen vielleicht genauso ging oder geht wie mir und wenn ihnen meine Geschichte hilft, dann ist das doch das Allerwichtigste, oder nicht? Ich litt an einer Essstörung. Genauer gesagt an Magersucht (Anorexia Nervosa).
Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, beschloss ich nichts mehr zu essen. Einfach so, von einem Tag auf den anderen. Es hat wie ein Spiel begonnen. Ich würde mich selbst herausfordern: „Mal schauen wie lange ich es aushalte, ohne zu Essen“. Wenn ich eine bestimmte Challenge geschafft hatte, war es wie ein Glücksgefühl. Es fühlte sich an, als hätte ich etwas Gutes und Positives erreicht. Zunächst, habe ich begonnen das Frühstück auszulassen. Das fiel kaum jemandem in meiner Familie auf, weil alle immer schon sehr früh morgens rausmussten. Dann habe ich auch mal in der Schule das Pausenbrot „vergessen“. Die Nachmittage habe ich oft alleine verbracht, also wäre es auch dann niemandem wirklich aufgefallen. Nur abends, da ging es nicht. Die ganze Familie versammelte sich jeden Abend um Punkt 19.30 Uhr zum Abendessen. Das war die schlimmste Zeit des Tages. Ich geriet innerlich in Panik, wenn ich nur daran dachte, dass ich gleich essen müsste. Oft log ich und sagte ich hätte am Nachmittag eine große Portion von irgendetwas, das mir in dem Moment einfiel, gegessen, damit ich dann nur eine Spatzenportion bekam, die ich dann natürlich auch kaum anfasste.
Der Tag begann für mich immer auf der Waage. Gefiel mir die Zahl, die auf der Anzeige aufblinkte, nicht, war der Tag für mich bereits gelaufen und ich malte mir Wege aus, wie ich mich selbst besser disziplinieren konnte. Täglich maß ich mein Selbstwertgefühl an dem Erfolg meiner Selbstbeherrschung. Ich fühlte mich mächtig, wenn ich bestimmen konnte, was und vor allem wann, bzw., ob ich überhaupt aß. An meinem schlimmsten Punkt, wog ich 35kg bei einer Körpergröße von 1,58m**. Ich aß höchstens eine Brezel und ein Apfel pro Tag. Wenn mir das nicht gelang, geißelte ich mich selbst mit weniger Essen in den darauffolgenden Tagen. Ich hatte panische Angst vor Familienfeiern, Geburtstagen, Übernachtungen bei Freunden, Ausflüge mit der Schule. Solche Situationen versetzen mich Wochen vorher in Stress. Ich musste mir genau überlegen, wie ich mein „Nicht-Essen“ überspielen konnte. Spontan konnte ich nie sein, stattdessen musste ich alles akribisch und diszipliniert durchplanen.
Diese Selbstdisziplin färbte auf andere Lebensbereiche ab. In den darauffolgenden Jahren entwickelte ich mich zur Vorzeige-Tochter schlechthin. Ich bekam nur Einser in der Schule, machte viele außerschulische Aktivitäten, Zuhause räumte und putzte ich alles ohne erst dazu aufgefordert werden zu müssen. Ich hatte kein Interesse an Partys, Jungs und all dem, was Jugendliche in meinem Alter normalweise machten. Ich war so diszipliniert und wenn ich mir etwas in den Kopf setzte erreichte ich es auch. Meine Eltern waren stolz und ich war es auch.
Irgendwann hörte ich das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Alle sprachen darüber wie dünn ich sei, wie viel ich in so kurzer Zeit abgenommen hätte. Die Schule rief bei mir zuhause an und „machte sich Sorgen“. Selbst meine Eltern fanden das alles seltsam und schleppten mich zu einem Arzt. Der meinte nur, das würde daran liegen, dass ich viel Sport machte und in der Pubertät, verändere sich der Körper nun einmal sehr schnell in so kurzer Zeit. Ich selbst realisierte das alles nicht. Wenn ich in den Spiegel schaute und zu der Zeit tat ich das sehr oft sah ich ein normales Mädchen. Ich sah nicht das was andere sahen und verstand nicht wieso mich alle damit nervten.
Meine Freunde wollten mit mir darüber zu reden, doch alle Versuche endeten damit, dass ich wortlos aufstand und ging. Es war nutzlos. Sie redeten gegen eine Wand. Meine Eltern köderten mich mit meinen Lieblingsgerichten, aber auch das half nichts mehr. Ich versuchte meine Essstörung überhaupt nicht mehr zu verstecken. Ich lebte sie nun offen aus. Es wussten alle Bescheid, also brauchte ich mich nicht mehr zu verstecken.
Ich habe nie über die Konsequenzen nachgedacht, die „Nicht-Essen“ mit sich bringt. Ich war ständig müde, konnte mich nur schlecht konzentrieren. Schlief die meiste Zeit des Tages. Ein Schultag überforderte mich. Kaum war ich zuhause, ging ich sofort schlafen. Ich war traurig und fühlte mich isoliert und nicht verstanden. Ich wollte nicht dünn werden oder abnehmen. Darum ging es mir eigentlich auch nicht. In meinem Fall, waren Gewichtsverlust und Essensverweigerung nur Symptome einer tiefer liegenden psychischen Krankheit. Wenn ich daran dachte, dass ich zunehmen könnte und auch wieder essen könnte, brach die Welt für mich zusammen. Essen und Zunehmen hieß die Kontrolle verlieren, hieß aufgeben, und ich gab nie auf! Doch was versuchte ich eigentlich zu kontrollieren? Was wollte ich erreichen? Den Tod? Denn darauf steuerte ich mit rasanter Geschwindigkeit zu.
Meine Eltern weinten nur noch. Ich hörte sie hinter verschlossenen Türen reden, dass wenn sich bald nichts änderte, würden sie mich irgendwo einweisen. In der Schule hatte ich niemanden mehr. Meine beste Freundin war mit der Situation völlig überfordert und das ist auch verständlich. Welche 15-jährige kann einer anderen 15-jährigen helfen? Jedes Mal, wenn sie mich ansah, waren Tränen in ihren Augen. Ich ging nur noch selten in die Schule und verbrachte die meiste Zeit zuhause. Ich schlief sehr viel und aß noch weniger….
Ich schaute in den Badezimmerspiegel und erschrak. Ein Schädel starrte mich an. Dünne, fahle Haut. Ihm fehlte der rosarote Glanz, ein Zeichen von Gesundheit und Lebensfreude. Die Lippen hatten an Farbe verloren und die Wangenknochen waren so scharf, dass man sich bestimmt an ihnen schneiden konnte. Die glasigen Augen lagen tief im Kopf und zeigten eine langandauernde Müdigkeit. Müdigkeit vom Leben? Der Körper war klein und zierlich. Zu zierlich. Die Kleidung hing schlapp herunter, wie an einem viel zu alten Kleiderbügel. Ich erkannte mich selbst nicht mehr wieder. Wie konnte es nur so weit kommen? – fragte ich mich.
Das war der Tag an dem sich alles änderte. So wie es begonnen hatte, so hat es auch wieder aufgehört. Von einem Tag auf den anderen. Ich fing wieder an zu essen. Schritt für Schritt. Kleine Häppchen, dann größere. Es fiel mir so schwer. Vor allem auch, weil sich mein Magen so sehr verkleinert hatte, dass ich einfach nicht mehr Essen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich hatte immer wieder Rückfälle, aber ich brauchte nur in die Gesichter meiner Familie und Freunde zu blicken und wusste, dass ich das Tun musste. Diese eiserne Selbstdisziplin, die ich mir all die Jahre erarbeitet hatte, nutze ich jetzt für das Gegenteil. Ich wollte wieder gesund werden.
Erst kürzlich hat mich ein Mädchen aus meiner alten Schule gefragt, wie ich es geschafft habe, das zu überwinden und ich konnte es ihr nicht beantworten. Es machte einfach Klick in meinem Gehirn.
Heute bin ich 25 Jahre alt und seit guten sechs Jahren wieder gesund und halte auch bereits seit knapp fünf Jahren ein Grundgewicht von 47-49kg bei einer Körpergröße von 1,61m. Ich habe das alleine überstanden und wollte auch keine Hilfe von Außen annehmen. Das liegt aber an meiner Persönlichkeit. Ich bin sehr stolz und möchte immer alles zuerst alleine schaffen. Allerdings bin ich eine große Befürworterin von Hilfe nehmen, wenn man diese auch braucht. Hätte ich selbst nicht daraus geschafft, hätte auch ich mir jemanden gesucht, der mir durch diese Zeit hilft und mit mir daran arbeitet gesund zu werden. Mir haben der Umzug nach Wien und mein damaliger Freund und seine Familie sehr geholfen, ein besseres Verhältnis zu Essen aufzubauen. Ich habe zwar noch immer Probleme mit Essen an sich und werde vermutlich mein Leben lang ein schlechtes Verhältnis zu Essen haben, aber ich esse wieder und das ist das Wichtigste. Ich esse noch immer kleine Portionen, dafür öfter am Tag. Die Gedanken, die ich früher hatte sind noch immer da, und ich muss jedes bisschen Willenskraft nehmen und sie ignorieren. Wenn ich gestresst bin, vergesse ich schnell mal eine Mahlzeit und erlebe dann wieder dieses Hochgefühl von früher, wenn ich es geschafft hatte, nicht zu essen. Wenn das passiert, versuche ich mich wieder daran zu erinnern, wie schlimm es für alle Außenstehenden war, mich dahinvegetieren zu sehen und das ist die beste Medizin.
*Ich habe beschlossen euch meine Geschichte zu erzählen, weil auf dem Blog oder auf Social Media manchmal alles sehr perfekt zu sein scheint. Ist es aber nicht und ich möchte niemandem ein falsches Bild übermitteln. Wir alle haben Kämpfe auszutragen und diese sind oftmals auf den ersten Blick nicht sichtbar. Essstörungen sind leider sehr präsent, vor allem bei pubertierenden Mädchen. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass ihr damit nicht alleine seid und es einen Ausweg gibt.
**Meine Mutter hat diese Zahl korrigiert, offenbar habe ich mich nicht mehr genau erinnern können: Es waren 32kg bei einer Körpergröße von fast 1,60m und ich war fast 16 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt, war ich seit 2,5 Jahren krank.
Wenn du oder jemand in einem Bekanntenkreis an einer Essstörung leidet oder ihr unnatürlich negative Gedanken in Bezug auf Essen und euer Körperbild habt und in Hilfe in Anspruch nehmen möchtet, findet ihr alle Infos und sämtliche Therapiestellen hier:
WICHTIGE INFOS |
Österreich / Wien: intakt: Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen: www.intakt.at sowhat. – Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen: www.sowhat.at Hilfe bei Essstörungen: www.fem.at Anonyme Hotline bei Essstörungen: www.wig.or.at Deutschland: Hilfe bei Essstörungen: www.bundesfachverbandessstoerungen.de |
7 Comments
Danke für diesen bewegenden Artikel Marcia! Ich kann sehr gut verstehe , wie schwer es für dich sein musste diesen zu Verfassen. Ich bin froh zu lesen, dass du den Kampf eigenständig gewonnen hast und es dir gesundheitlich gut geht!
Alles Liebe,
Karolina
https://kardiaserena.at
Liebe Karoline,
danke für deinen Zuspruch und positives Feedback. Das freut mich sehr. Umso mehr freut es mich, wenn ich mit meiner Geschichte jemandem helfen kann, der in der gleichen Situation war oder ist…
Mir geht es wirklich besser, aber Essen wird für mich leider immer ein schwieriges Thema sein, und so geht es leider vielen Frauen, die das gleiche durchgemacht haben
xx
ich meinte natürlich „KarolinA“ aber mein autocorrect hat es gleich umgeändert. tut mir leid 🙁
Hi,
ich finde es sehr mutig darüber zu sprechen. Ich bin mir sicher, du hattest furchtbare Jahre. Essen ist ein zentrales Thema in unserem Leben, um das man nie herumkommt. Langfristig muss man stark sein und bleiben, um nicht rückfällig zu werden. Du machst das toll. Weiter so.
Das einzige was ich oft kritisch betrachte ist, dass ich solche persönlichen Dinge nicht veröffentlichen würde. Langfristig gesehen könnte es einem schaden, vor allem, wenn man auf der Suche nach einem Job ist. ich weiss, dass sich Arbeitgeber fast immer im Netz nach ihren möglichen Arbeitnehmern erkundigen und sich vorab ein Bild machen. Solche Krankheiten können der Grund sein, weshalb jemand eine Stelle nicht bekommt, weil vermutlich davon ausgegangen wird, dass es eine Rückfallquote gibt, was bedeutet, dass ein Ausfall für längere möglich ist.
Das Netz vergisst nichts, leider und eine vorgefertigte Meinung loszubekommen, kann schwierig bis unmöglich sein.
Versteh das bitte nicht falsch. Ich bewundere deinen Mut und finde dich klasse!!!
Alles Liebe zu dir
Elisabeth
http://www.missespopisses.com
Liebe Elisabeth,
Dankeschön für deinen ausführlichen Kommentar.
Ich muss dir da unrecht geben, denn laut deinen Argumenten, bekommt niemand, der sich öffentlich für bestimmte Krankheiten oder Thematiken einsetzt einen Job oder wie? Und bei einem Arbeitgeber, der nicht die Kraft und den Mut sieht, der aus einer solchen Krankheit entsteht, bei dem möchte ich dann gar nicht erst arbeiten. Das ist genauso wie, wenn sich jemand öffentlich für Brustkrebs einsetzt und dann halt stopp, die hatte ja Brustkrebs, die dürfen wir nicht einstellen. Oder ohhh die hat schon ein Kind, das heißt, da kommt bestimmt noch eines irgendwann….erstens ist das diskriminierend und zweitens auch noch illegal. Dann kann ich auf solche Arbeitgeber auch gut und gerne verzichten 🙂
Liebe Grüße
Márcia
Da kann ich mich Márcia nur anschließen.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass dieser Beitrag Ihrer beruflichen Karriere schaden könnte.
Im Gegenteil finde ich es toll und bewundernswert! Ich denke, dass so viel Ehrlichkeit vielen Mädchen in der selben Situation enorm helfen kann. Sollte ein Arbeitgeber das anders sehen würde ich genauso nicht bei ihm arbeiten wollen.
Liebe Grüße,
Julie 🙂
Liebe Marcia!
Du kannst echt sehr stolz auf dich sein, dass du es geschafft hast etwas zu ändern. Ich habe selbst Personen in meinem näheren Umfeld die genau dasselbe Problem haben und daher weiß ich wie schwer es für die Familie ist, aber auch für die Betroffene Person. Ich finde es toll, dass du öffentlich darüber sprichst. Denn über rein körperliche Krankheiten sprechen alle, aber sobald es um die Psyche geht keiner und das ist meiner Meinung nach falsch. Diese Krankheit betrifft so viele Menschen und gerade deshalb ist es wichtig darüber ehrlich zu sprechen.
Liebe Grüße,
Nina