Über Druck & Perfektionismus:
27 und noch immer nichts erreicht
Über Druck & Perfektionismus:
27 und noch immer nichts erreicht
Während die anderen Kinder in den Pausenhof rennen, sich auf dem Klettergerüst austoben oder sich mit Sand aus dem Sandkasten bewerfen, bleibe ich auf der Bank sitzen, esse in Ruhe mein Essen und gehe dann auf Toilette, um nachzuschauen, ob noch alles richtig sitzt. An dem Tag trage ich eine dunkelblaue Latzhose und einen rosa-weiß gestreiften Pulli. Meine weißen Sneaker sehen noch immer perfekt aus, auch, wenn Anna vorhin fast ihre Schokomilch darauf getröpfelt hat.
Ich war schon als kleines Mädchen eine Perfektionistin. Während andere Kinder sich im Sand und Match wälzten, wurde ich von der panischen Angst, schmutzig zu werden und nicht mehr gut auszusehen, zurückgehalten. In der Grundschule machte ich mir Sorgen, dass ich keine guten Noten bekommen würde. Manchmal weinte ich deswegen.
Das Streben nach Perfektion war immer schon in mir, aber als ich älter wurde, machte es sich noch mehr bemerkbar. Ich entwickelte eine Essstörung. Ich achtete penibel darauf, wie sich mein Äußeres veränderte. Es ging so weit, dass ich in der Schule nicht mehr gut mitkam und meine Angst, nicht mehr die perfekten Noten zu bekommen, sich bestätigten.
Ich bin nicht genug
Essstörungen und diese Stimmen voller Selbstzweifel, die man im Kopf hat, verschwinden aber nie wirklich, und selbst viele Jahre später vergleiche ich mich mit anderen Frauen. Heute mehr denn je, habe ich das Gefühl versagt zu haben. Nicht gleich auf zu sein. Ich bin 27, lebe in einer schönen Wohnung mit meiner besten Freundin, habe einen super tollen Freund, den ich liebe, habe einen Job, der zwar unsicher ist, es mir aber ermöglicht mich kreativ zu entfalten. Und doch spüre ich diesen Druck nicht genug zu sein. Ich höre tief in mir eine Uhr ticken, die mir sagt, du hast nicht mehr viel Zeit deine Karriere aufzubauen, die Welt zu bereisen, eine Familie zu gründen, ein Haus zu kaufen, deinen Körper zu optimieren, dich weiterzubilden und deine Freundschaften besser zu pflegen.
Meine Gedanken kreisen sich permanent um das, was ich nicht erreicht habe. Ich sollte studieren, Karriere machen, mich selbst verwirklichen, eine Führungsposition anstreben. Etwas Kreatives, Großartiges und Erfüllendes machen. Und zwischen alldem sollte ich eine Familie gründen, am besten früh genug, denn irgendwann geht es auch nicht mehr. Die biologische Uhr tickt. Doch da schwingt die Angst mit. Habe ich bis dahin einen geeigneten Partner gefunden, den ich liebe und der mit mir eine Familie gründen möchte? Kann ich mir überhaupt ein Kind leisten mit dem mickrigen Gehalt? Wird mein Job noch da sein, wenn ich aus dem Mutterschutz zurückkomme? Wie lange kann ich bei meinem Kind bleiben? Werde ich mit Gehalteinbüßungen rechnen müssen? Werde ich als Mutter überhaupt die Chance bekommen mich karrieretechnisch weiterentwickeln zu dürfen? Wird Haushalt, Kindererziehung und Job vereinbar sein, oder wird alles an mir alleine hängen bleiben?
Wir können heutzutage „alles haben“ und so viele Dinge tun, die früher nicht möglich waren. Und das ist ein wundervoller Fortschritt. „Alles zu haben“ und das im Idealfall auch noch in seinen 20ern kann jedoch auch sehr schwierig sein, da viele der Erwartungen, die wir und die Gesellschaft an uns stellen, widersprüchlich sind. In dem Moment, als wir die Möglichkeit bekamen, alles zu haben, hieß es auch wirklich „alles“ – Studium, Karriere, Haus, Familie in einem Zeitraum von zehn Jahren – und nicht „entweder, oder“.
Ich finde es schwierig diese Rollen miteinander zu kombinieren und fühle mich aufgrund dessen wertlos und unfähig. Der Druck perfekt zu sein ist immens, was laut der 2017 in Schweden publizierten MONICA Studie unter anderem zu Angstzuständen, Burnout und Depressionen führen kann. Dr. Annika Forssen, Leiterin der Langzeitstudie befragte 30 Jahre lang 1811 Personen zwischen 25 und 34 Jahren, um herauszufinden, wie sich der „Stress des modernen Lebens“ im Vergleich zu früher auf die Gesundheit junger Frauen auswirkt. Dabei fand sie heraus, dass doppelt so viele Frauen heute ein Burnout-Risiko aufweisen als vor fast 30 Jahren.
WOW
Was heißt jetzt?
Was heißt Zeit?
Ich muss lernen Erfolg für mich neu zu definieren. Ich habe nur ein einziges Leben und es ist unmöglich, alles zu tun und alles zu sein in einer so kurzen Zeitspanne. Manchmal ist die Entscheidung, etwas nicht oder noch nicht zu tun, unvermeidlich. Wäre ich wirklich eine Versagerin, wenn ich eine großartige Karriere, aber keinen Freund, hätte? Oder wenn ich viel Zeit mit meiner Familie verbringe, die Karriere aber zu kurz kommt? Ich lieber reise und erst mit 30 studieren würde? Ich zuerst eine Familie gegründet hätte und vielleicht später Karriere machen würde? Wir sollten uns nicht von gesellschaftlichen Vorstellungen unter Druck setzen lassen und schon gar nicht mit anderen Menschen vergleichen. Es gibt keinen exakten Zeitplan, keine To-Do-Liste, nach denen wir uns richten müssen. All dieser Druck, den wir uns selbst machen, verringert die wenige Zeit, die wir haben und anstatt sie im Jetzt zu genießen, denken wir permanent daran, was wir nicht haben und was wir aber dringend brauchen, um glücklich, erfüllt und perfekt zu sein.
You’re not behind in life. There’s no schedule or timetable that we all must follow. It’s all made up. Wherever you are right now is exactly where you need to be. Seven billion people can’t do everything in exactly the same scheduled order. We are all different with a variety of needs and goals. Some get married early, some get married late, while others don’t get married at all. What is early? What is late? Compared with whom? Compared with what? Some want children, others don’t. Some want a career; others enjoy taking care of a house and children. Your life is not on anyone else’s schedule. Don’t beat yourself up for where you are right now. It’s YOUR timeline, not anyone else’s, and nothing is off schedule.
― Emily Maroutian, The Book of Relief: Passages and Exercises to Relieve Negative Emotion and Create More Ease in The Body
Ich bin Perfektionistin mit einem massiven Imposter-Syndrom – mich plagen Selbstzweifel hinsichtlich meiner eigenen beruflichen und intellektuellen Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge und ich bin nicht im Stande diese zu sehen. Aber all das gehört zu meiner Persönlichkeit dazu. Auch die Tatsache, dass ich mich mit anderen vergleiche. Ich muss aber lernen die Dinge, die ich kann und erreicht habe, auch zu sehen und mit dem zufrieden zu sein. Ich werde lernen weinger hart zu mir selbst zu sein, mich öfter zu loben und diese mentale To-Do-Liste und den Zeitplan in einen virtuellen Papierkorb schmeißen. Irgendwann vielleicht, werde ich, ob mit Karriere oder nicht, ein kleines Mädchen in einer blauen Latzhose, einem pink-weiß gestreiften Pulli und weißen Sneaker in die Schule schicken und ihr hinterherrufen: „Viel Spaß in der Schule und hab’ keine Angst dich dreckig zu machen! Wir haben eine Waschmaschine!“
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1 Comment
Total toller Beitrag! Gibt es vielleicht außer dem Buch „The Book of Relief“ noch weitere Lektüre zu dem Thema das du empfehlen kannst. Vielen lieben Dank