1 mal 0 ist 0 | Gastbeitrag
1 mal 0 ist 0 | Gastbeitrag
Er lehnt sich zwischen die beiden Vordersitze und sieht uns bedeutungsschwer an. „Wir drei“, sagt er langsam, legt in jedes Wort Gewicht, „so wie wir hier sitzen, gehören zu den 1%. Wir sind reicher als 99% der Weltbevölkerung.“. Er lässt sich zurückfallen, ganz so, als wolle er den Worten genügend Raum geben, sich zu entfalten. Sein Blick liegt abwartend auf unseren Hinterköpfen.
1%, sage ich zu mir selbst, das bedeutet, du hast so absurd viel, dass viele Menschen nur ungläubig den Kopf schütteln würden, wenn man ihnen davon erzählt. So reich, würden sie sagen – unmöglich, vielleicht würden sie lachen. Oder weinen. Was würden sie wohl denken, wenn sie wüssten, dass du dich nicht einmal als reich betrachtest? Nur mehr 38€ am Konto, am Ende des Monats – das soll reich sein? Sagen wir und klappen den Laptop zu, lassen uns rücklings ins Kissen fallen.
Ja, du hast Wasser und Nahrung – ich versuche alles aufzuzählen – medizinische Versorgung, ein warmes Heim und ein sicheres, liebevolles Umfeld. Du hast genügend Geld um dir alles zu kaufen, was du brauchst, so viel Geld, dass die meisten deiner Besitztümer vor allem eines sind – entbehrlich, auch wenn es dir nicht so scheint. Du kannst Lesen und Schreiben, konntest dir ein solides Allgemeinwissen und ein gutes Selbstbewusstsein aneignen, du verfügst über einen freien Zugang zu Literatur, Artikeln, Videos – Quellen aller Art. Wenn du willst, kannst du dir über Nacht sämtliche Werke von Goethe liefern lassen, du kannst binnen einer Stunde alle Hauptstädte der Welt auswendig aufzählen oder in einem 4 wöchigen Intensivkurs eine neue Sprache lernen. Du hast tausend Möglichkeiten, deine Talente und Fähigkeiten auszubauen, mit der Welt zu teilen oder sie zu nutzen, um Geld zu verdienen, um dieses mit 5 Klicks in alles zu investieren, wonach dir beliebt.
Ja – und wieder – in Wahrheit bist du so reich, dass du dich trotz alle dem, nicht reich fühlst. Das ist der reinste Luxus, oder? Es fühlt sich einfach normal an, nicht bemerkenswert, dass klares Wasser aus einer Leitung in deine Wohnung fließt, auch wenn du dir bewusst machst, dass es nicht so ist, es immer wieder wie ein leuchtendes Schild vor deine Gedanken schiebst. Das Gefühl fehlt. „Wir drei“, sagt er, „so wie wir hier sitzen“, sagt er, „gehören zu den 1%, für die das eben normal ist.“ Unsere Blicke treffen sich kurz im Spiegel, prallen dann ab und zeigen zurück.
Und, was machst du so, mit deinem Potential?, frage ich mich. Was machst du, mit deinem Reichtum? Was tust du, mit deinem Zugang zu Wissen und zur Welt? Wie sieht dein Alltag aus und wie deine Lebensziele? Ja, was wollen Wir?, frage ich laut. Ist es nicht absurd, sagt er, dass wir danach streben uns zu bereichern, dass wir Prestige suchen, mit verantwortungsvollen Posten, mit gutem Einkommen, mehr, immer mehr Besitztümern. Ist es nicht absurd, sage ich, wie wir immer und ohne Ende nach Selbstverwirklichung streben, uns selbst finden wollen – überall, nur nicht in der Tiefe – dabei nur Leere immer höher stapeln, damit uns das Völlegefühl nachts ruhig schlafen lässt? Wir sind so stolz, auf unsere Ausbildung, unsere neuen Schuhe und Handys und Fotos, so eingenommen von unseren Körpern, Haaren, falschen Nägeln, gefassten Gesichtern und unserem Lebenswandel, der uns Tag für Tag alle Kraft kostet und so wenig davon gibt. Wir bestärken uns gegenseitig darin, versuchen mit viel Feingefühl, keine Wogen zu erzeugen, stopfen kleine Risse mit Floskeln. Das all das krank macht, zu Krisen führt, wissen wir, wir gliedern sie als selbstverständlichen Teil unseres Lebens mit ein, nennen sie „Midlifecrisis“, Depression und freunden uns damit an. So ist eben ein normales Menschenleben für uns, für die 1%, da kann so was schon mal passieren.
Und wenn wir jetzt in den Spiegel blicken, lassen wir unsere Augen nur kritisch die Oberflächen abtasten, denn ein Blick in die Tiefe ist zu schwierig, zu schmerzhaft, noch schmerzhafter sogar, als unsere zahlreichen, einnehmenden Schönheitsleiden.
Ich reibe mir müde die Augen, er sieht gedankenverloren aus dem Fenster. Werden wir es lernen, frage ich, und wie fühlt es sich wohl an, fragt er, eines Tages vor einem der 99 zu stehen, eines Tages sich selbst in die Augen und tief ins Leben blicken zu müssen – „Und“, werden sie fragen, „Was hast du getan, mit all deinen Möglichkeiten?“, sie werden uns erwartungsvoll anlächeln – was werden wir sagen? Werden wir faltig, lächelnd und leer in unseren Wohnungen sitzen, umgeben von Besitztümern und Büchern voller Fotos von Besitztümern und Regalen voll mit diesen Büchern voll Fotos, voll Besitztümer, die allesamt in Müllsäcken landen, wenn wir die Augen schließen. Werden wir einen Berg aus Staub hinterlassen und ein Konto voll Geld, jenen, die uns am nächsten stehen? Werden wir unsere Spiegelbilder meiden, werden wir noch immer verzweifelt versuchen, das Glück dort zu finden, wo es uns immer versprochen wurde, oder uns einfach mit dem Unglück abgefunden haben? Werden wir es Leben taufen und unseren Frieden im Unfrieden finden?
Werden wir faltig, lächelnd und leer in unseren Wohnungen sitzen, umgeben von Besitztümern und Büchern voller Fotos von Besitztümern und Regalen voll mit diesen Büchern voll Fotos, voll Besitztümer, die allesamt in Müllsäcken landen, wenn wir die Augen schließen.
Oder werden wir wissen, was es heißt, frei nach unserem Verstand und Herz zu leben, werden wir endlich das Mehr gefunden haben, werden wir Zuhause sein, dort, wo uns Licht, Liebe und Sinn Erfüllung spenden und der Schmerz der Erkenntnis, seine Schönheit nur noch ein bisschen mehr betont.
Schweigen füllt den kleinen Raum auf Rädern, den kleinen Raum zwischen Augen und Hinterkopf. Mein Blick versucht sich am Horizont festzuhalten, gleitet an dem schmalen Strich zwischen Erde und Himmel immer wieder ab, rutscht in die dunklen Tannenwipfel oder ins Blau, verliert sich in unscharfem Rauschen, Bewegung.
„Aber“, sagt er, setzt den Blinker, wirft einen Blick in den Seitenspiegel, und wechselt die Spur, „wenn es so einfach wäre, die Welt zu verändern – wieso macht es dann keiner?“.
Ja – Augen treffen sich im Rückspiegel, ein müdes Lächeln – wieso machst Du es denn nicht? Und ja, der Blick prallt ab, das Lächeln weicht. Wieso mach ich es nicht?
Wir danken der Autorin Hanna O. für diesen wundervollen Text <3
1 Comment
Ich liebe diesenText!!